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11.08.2020

"Die Realität ist spannender als Science Fiction"

Die Urbanisierung ist ein Megatrend: Nie zuvor sind Städte schneller gewachsen. Stadtplaner und Architekt Kees Christiaanse verrät, wie wir morgen leben. Das hat er unter anderem im Future Cities Laboratory in Singapur für die ETH Zürich erforscht.

 

Professor Christiaanse, Sie haben Büros an verschiedenen Orten der Welt, in Europa wie in Asien. Welches sind die futuristischsten Architekturen?
Es gibt viele! In Singapur finde ich das Woha-Gebäude städtebaulich und architektonisch sehr interessant: Die 200 Meter hohe «Pflanze» hat bewachsene und halbtransparente Fassaden. Im kalifornischen Cupertino scheint der energieautarke Apple Campus futuristisch. Allerdings spricht etwas gegen das 460 Meter breite Ufo in der Landschaft: Es ist ringförmig – ein Symbol für Abgeschlossenheit. Und vor allem ist es nur über eine Tiefgarage und mit Auto zugänglich. Ganz anders die Genossenschaft Kalkbreite in Zürich: Im Erdgeschoss wirken Läden und Restaurants nach aussen. Der Aufbau lässt unterschiedlichste Nutzungen zu, zuoberst gedeiht eine Dachlandschaft.

Am Woha-Gebäude fallen die Grünflächen auf. Realisieren sich Öko-Utopien im Zeitalter der Hochhäuser?
Die sogenannten vertikalen Gärten wirken sich positiv auf das Wohnklima aus. Sie können den Klimahaushalt von Gebäuden hinsichtlich Kühlung und Sonnenschutz begünstigen. Für eine ausreichende Qualität sind aber «echte» Grünstrukturen erforderlich. Das heisst, es braucht eine dicke Erdschicht und echte Bäume. Ich befürworte städtebauliche Strukturen, die über die Jahre hinweg gewachsen sind – oder neue Strukturen, die sich aus einem robusten Grundentwurf entwickeln.

Nennen Sie gelungene Beispiele.
Die HafenCity Hamburg gehört zu den grössten Stadterneuerungsprojekten in Europa. Sie hat sich aus bestehenden Kaimauern, Wasserbecken, einigen Bestandsgebäuden und natürlich überwiegend neuen Gebäuden entwickelt. Durch die Diversität wähnt man sich wie in einer «natürlich» gewachsenen Stadt. Auch der kantonale Richtplan von Kanton und Stadt Zürich in der Schweiz ist exemplarisch. Gemeindeübergreifend legt er fest, wo gebaut und wo nicht gebaut werden darf. Das verhindert wenig durchdachte grossflächige Überbauungen und gewährleistet ein hervorragendes öffentliches Verkehrsnetz. Hinzu kommen die attraktive Durchfliessung der Landschaft, die hohe Wasserqualität in See und Flüssen. Und vom Stadtzentrum aus ist man in 15 Minuten in der Natur – zu Fuss.

Dabei verdichten sich Stadt und Land zusehends.
Es gibt zwei gegensätzliche Urbanisierungsmodelle: die kompakte, dichte, attraktive Stadt – und die Stadtlandschaft, auch «Desa Kota» genannt. Der Name stammt von der halbverstädterten Landschaft, die sich in Indonesien über ganz Java erstreckt. Die Landschaft wird besiedelt, weil die Bodenpreise niedriger sind als in der Stadt und die Erreichbarkeit anfänglich günstig ist. Durch diese Art der Urbanisierung entstehen eine Überlastung des Verkehrsnetzes und «Ver dauungsprobleme».

Eine solche Stadtlandschaft scheint wenig attraktiv …
Sie wird aber eine Realität bleiben. Und deshalb muss man sie politisch und entwerferisch gestalten. Sonst drohen Verkehrsinfarkte, Landverschwendung und Ineffizienz.

Wie werden wir 2050 leben?
Klima, Wirtschaft, Digitalisierung, Überalterung der Gesellschaft, Migration: Was 2050 sein wird? Wahrscheinlich sind alle unsere Vorstellungen komplett falsch.

Als Stadtplaner gestalten Sie aber die Zukunft mit.
Wir gehen von drei Wachstumstrends aus: dem Worst Case, dem Trend und dem Erstrebenswerten. Dann schauen wir, welche Szenarien daraus in zehn, zwanzig Jahren entstehen könnten. Wir versuchen, eine Struktur zu entwerfen, die nicht zu starr ist, damit Transformationen und Anpassungen unterwegs stattfinden können.

Lassen Sie sich auch von Science-Fiction inspirieren?
Nein! Die Realität ist spannender als Science-Fiction. Unser Biologielehrer sagte vor fünfzig Jahren: «Zauberei gibt es nicht, aber die Realität zaubert mehr, als ihr euch vorstellen könnt.» Wir fragten: «Wieso?» Er: «In Zukunft wird nichts unmöglich sein.» Science-Fiction kann genial sein, nützt uns aber nichts. Eine kompakte Stadt entwickelt sich fast aus sich selbst heraus: durch die Konzentration von Leuten, die sich dort mit ihren Interessen reiben. Daraus entstehen oft kreative Lösungen.

Welche weiteren Wohntrends zeichnen sich ab?
Aus verschiedenen Gründen sind introvertierte Überbauungen gefragt – sogenannte Gated Communities. Bei diesen abgeriegelten Siedlungen wird der ganze Sicherheitsaspekt so übertrieben, dass er sich auf alle Aspekte der Stadt auswirkt.

Wir müssen lernen, Stadtlandschaften zu gestalten. Sonst kollabiert der Verkehr und die Natur wird unnötig zerstört.

Nämlich?
Früher hatte ein Gebäudekomplex einen zugänglichen Garten. Heute steht davor ein Zaun. Der Garten erschliesst sich nur noch durch den Fingerabdruck via elektronische Steuerung.

Wie nehmen Sie Einfluss auf solche Entwicklungen?
Als Stadtplaner versuchen wir, das zu verhindern. Denn Transparenz und Durchlässigkeit sind wichtige Voraussetzungen für die Lebensqualität einer Stadt.

Sie wünschen sich Pop-up-Zonen an öffentlichen Orten.
Absolut, das finde ich wichtig. Solche Zonen nenne ich Improvisationsräume. Sie bringen Leben auf Plätze.

Wo und wie können sich diese gestalten?
In der Übergangszone zwischen öffentlichem Raum und privaten Gebäuden. Das Gebäude an der Wasserwerkstrasse in Zürich, wo wir ein Büro unterhalten, ist ein gutes Beispiel dafür. Hier gibt es ein Tanzhaus, ein Freiluftkino plus ein Flussbad: Im Sommer ist man draussen, führt Besprechungen neben Tanzübungen durch. Und vielleicht parkt in der Nähe gerade ein Kiosk oder ein Food-Caterer, der seine Produkte anbietet.

Bestehen für solche Improvisationsräume auch Richtlinien?
Wir sagen, dass eine Erdgeschosszone flexibel nutzbar sein und ein gewisses Mass an Öffentlichkeit haben muss. Dann schreiben wir Zonenbreiten vor, drei oder fünf Meter vor dem Haus. Hier kann diese Improvisation mit bestimmten Beschränkungen stattfinden.

In heissen Städten braucht es auch Durchlässigkeit, damit der frische Wind hindurchziehen kann.
Im warmen Klima kann man ein doppeltes Dach schaffen und unter der obersten Schicht eine Ventilationslücke offenlassen. Eine weitere Ventilationsmöglichkeit besteht darin, die Fassaden vorzuhängen, mit Efeu bewachsen zu lassen und Regenwasser darüber rieseln zu lassen. Das kühlt ab und schützt vor der Sonne.

Der Klimawandel beschäftigt derzeit die Gemüter.
Wir beschäftigen uns stark damit, wie man Gebäude, Regenwasser, Ventilation, Kühlung in unterschiedlichem Klima mehr oder weniger energieneutral laufen lassen kann. Das geht in kälteren Klimazonen besser. In Singapur ist die Kühlung zwei- bis viermal teurer als in Westeuropa. Kühlen verschlingt wesentlich mehr Energie als Heizen.

Können Schiebelösungen an Fassaden zusätzlich nützen?
Ja. Bei Gebäuden sind schiebbare Doppelfassaden sehr effektiv – und sie verleihen zusätzliche Flexibilität. Man kann zwischen den unterschiedlichen Schichten variieren und so das Klima besser kontrollieren. Das ist effektiver, als wenn man nur eine Lösung hat.

Auch private und geschäftliche Räume verknappen sich. Sind Schiebelösungen da sinnvoll?
Nebst einem intelligenten Grundriss helfen auch solche Lö sungen, Platz und Flexibilität zu schaffen. Nur schon, weil der Drehraum für den Türflügel entfällt.

Ihr Büro ist weltweit in Grossprojekte involviert. Welchen ästhetischen Spielraum hat man heute beim Bauen?
Grundsätzlich beobachte ich im Bau einerseits eine Zunahme an Möglichkeiten, andererseits eine Standardisierung. Früher fertigten verschiedene Schreiner Fensterrahmen an. Heute kommen Sie aus derselben Fabrik. Das gilt auch für die Fassade, die Decke, einfach alles. Man ist als Architekt mit einer zunehmenden Standardisierung konfrontiert. Zugleich ermöglicht die moderne Software individuelle Anpassungen per Knopfdruck.

Hinzu kommen verschiedenste Materialien.
Ja, vor hundert Jahren standen Holz, Glas, Backstein, vielleicht Schiefer zur Verfügung. Jetzt können seltenste Materialien zwischen den Kontinenten verschoben werden.

Schiebbare Fassaden können zum angenehmen Raumklima beitragen.

Stadtplaner von Weltformat

Der Niederländer Kees Christiaanse (65) ist Gründer des Architektur- und Planungsbüros KCAP Architects&Planners. Es beschäftigt über 100 Architekten, Stadtplaner und Landschaftsarchitekten aus 20 Nationen in Zürich, Rotterdam  und Shanghai. «Wir bilden eine Einheit mit drei Räumen in drei Ländern», sagt Christiaanse. Der kürzlich emeritierte Professor für Architektur und Städtebau ist regelmässig in Singapur, wo er seit 2010 für die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich am Aufbau und der Leitung des Future Cities Laboratory mit 75 Mitarbeitern mitwirkte.

Thema
Microliving, Slide Magazin
Segment
Corporate, Residential