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21.09.2020

Klein, aber fein

Die Weltbevölkerung wächst. Und sie rückt in Städten immer näher zusammen. Als Antwort darauf versucht die Microliving-Bewegung, möglichst jeden Quadratmeter Wohnfläche sinnvoll auszunutzen – nach dem Motto «weniger ist mehr». Wir haben uns bei den Protagonisten der Szene umgehört.

Als kleiner Junge staunte Leonardo Di Chiara darüber, was sich alles auf dem Segelboot der Eltern verstauen liess. «Ich hatte zwei Träume», sagt der Architekt, «unabhängig sein und reisen.» Beides hat er längst verwirklicht: Di Chiara tourt mit einem Haus auf Rädern namens «aVOID» durch Europa und stellt es auf Architektur- und Möbelmessen vor.

«aVOID» ist Programm. Der Begriff heisst so viel wie «Leere» und «vermeiden». Um auf neun Quadratmetern zu leben – und sogar Gäste einzuladen –, hat sich der junge Italiener einiges einfallen lassen. Da klappen Stühle und Tische aus der Wand, Schubladen rollen auf Schienen daher, das Schrankbett verwandelt sich durch eine magische Faltung zum Doppelbett. Di Chiara dreht, rollt und schiebt, zaubert eine Leiter für die Dachterrasse aus der Wand und schiebt die offenen Türen des Geschirrschranks dort hinein. Für die Küchentüren hat er die Schiebelösung HAWA Folding Concepta 25 verwendet. Die ganze Einrichtung ist typisch für ein «Tiny House»: Ein Mikrohaus mit allem Lebensnotwendigen auf kleinstem Raum. «Je weniger du hast, desto freier bist du. Diese Denkhaltung geht übers Wohnen hinaus», erklärt Di Chiara. Um weitere Kreise zu begeistern, hat er eine «Tinyhouse University» in Italien gegründet.

«So klein das Zuhause auch ist: Menschen wollen es persönlich mitgestalten.»

Dr. Sonja Friedrich-Killinger, Psychotherapeutin, Ludwigsburg

Von Öko-Idealisten zu Grossinvestoren
Immer mehr Tüftler, Wissenschaftler und Aussteiger aus aller Welt schliessen sich der Tiny-House-Gemeinschaft an. Sie legen meist selbst Hand an, um sich ihr Wohnparadies zu zimmern – und lassen die Community an jedem Baufortschritt teilhaben. Im Internet und an Festivals tauschen sie sich über Grundrisse, Wohnwagen und Möbel aus. Und sie freuen sich «auf das autarke Leben in der Natur».

Doch was als idealistische Laienbewegung begann, ist mittlerweile von Stadtplanern, Architekten und Investoren entdeckt worden. «Microliving» heisst ihr Zauberwort und es steht für das Wohnen auf kleiner Fläche. «Verdichtung ist angesichts der Flächenversiegelung ein Muss», sagt der US-Architekt David Baker, Gründer des gleichnamigen Architekturbüros in San Francisco. Tatsächlich sind die durchschnittlichen Wohnflächen bei Neubauten in vielen Industriestaaten – nach einem Anstieg seit den 70er-Jahren – in den letzten Jahren wieder geschrumpft. Wie viele Quadratmeter als Microliving gelten, hängt dabei von den örtlichen Gegebenheiten ab. «Je verdichteter wir wohnen, desto kleiner wird unser ökologischer Fussabdruck», postuliert Baker, der eine pioniermässige Microliving-Siedlung erstellt hat. Die Bewohner häufen automatisch weniger Konsumgüter an. Doch weniger Platz bedeutet nicht weniger Lebensqualität – im Gegenteil, meint Baker: «Das verdichtete Zusammenleben ermöglicht es, eine gut ausgebaute Infrastruktur aufzustellen und sie gemeinsam zu nutzen.» So können in verdichteten Siedlungen etwa Gästezimmer, Gewerberäume und kulturelle Einrichtungen für alle entstehen – und zu erschwinglichen Preisen.

«Bauernhaus» mit sechs Stockwerken
Am höchsten ist der Druck zum Microliving in Asien. Hier ziehen jede Woche eine Million Menschen in die Städte. Die Stadtplaner setzen auf gigantische Wohntürme mit Miniappartements. 43 Prozent der Wohnungen, die 2018 in Hongkong gebaut wurden, waren kleiner als 40 Quadratmeter. «Angesichts der beschränkten Flächen und der hohen Bevölkerungszahl haben wir keine andere Wahl, als stark verdichtet zu bauen», erklärt der langjährige Chefstadtplaner von Singapur, Dr. Thai-Ker Liu. In den vergangenen Jahrzehnten hat er in China 50 neue Städte errichtet. Die Massstäbe dort sind anders: In der Megametropole Shenzen im Perlflussdelta gelten Stadtteile mit zwanzigstöckigen Wohntürmen als «Dorf». Häuser wie im Stadtteil «Huanggang Village» mit lediglich sechs Stockwerken werden als «Bauernhäuser» bezeichnet.

In den USA, Australien und Europa wollen die wenigsten Menschen so eng zusammen wohnen. Für den Frankfurter Architekten Stefan Forster ist klar: «Die wenigsten Menschen wohnen freiwillig in einer Art Hasenstall.» Die europäische Wohnkultur habe auch etwas mit Wohlstand und Prestige zu tun. «Eine Mikrowohnung ist meist eine vorübergehende Lösung. Wer dort lebt, schaut, dass er da irgendwann wieder rauskommt.» Dennoch sei es ein Gebot der Stunde, platzsparend und ressourcenschonend zu bauen. Schiebetüren hält Forster hierzu für eine elegante Lösung: «Ich liebe Schiebetüren, weil sie nicht in den Raum hineindringen und keine Möblierungsfläche wegnehmen. Und man kann sie halb offen lassen und so Kommunikation zwischen den Räumen ermöglichen.»

«Leben auf weniger Raum bedeutet nicht, dass Lebensqualität verloren geht.»

David Baker, David Baker Architects, San Francisco

Hohe Ansprüche auf kleinem Raum
So klein Räume auch ausfallen, sie müssen zwei entgegengesetzten Bedürfnissen gerecht werden: jenem nach Sicherheit und Privatheit sowie jenem nach sozialen Kontakten. An diese Herausforderung erinnert die Wohnpsychologin und Psychotherapeutin Dr. Sonja Friedrich-Killinger. Es sei vorteilhaft, wenn Licht durch grosse Fenster in die Wohnung fliesse und der Blick nach draussen ein Gefühl der Weite vermittle. «Die Natur verändert sich ständig und bietet eine ideale sensorische Stimulation.» Studien zeigen, dass Menschen in Krankenhäusern schneller genesen, wenn ihre Zimmer Sicht ins Grüne bieten. Für Anlagen mit Mikrowohnungen empfiehlt Friedrich-Killinger halb öffentliche Flächen, auf denen die Bewohner der Enge der Wohnung entkommen und ungezwungen anderen begegnen können. «Waschküchen und sterile Flure sind dafür ungeeignet. Besser wirken sich eine Gemeinschaftsküche und eine CaféNische aus.» Selbst in möblierten Mietwohnungen brauche es Freiräume: «Menschen haben ein Bedürfnis, ihre Wohnräume zu personalisieren. Rein funktional eingerichtete Appartements deprimieren einen auf Dauer», sagt Friedrich-Killinger: «Jede Mikrowohnung muss Raum für eine Pflanze oder ein Bild bieten.»

Grossinvestoren, die solche Aspekte berücksichtigen, müssen für ihre Microliving-Bauprojekte nicht lange die Werbetrommel rühren. «Die Nachfrage nach kleinen Wohneinheiten ist gross, wenn sie zentral liegen. Unsere 50 neu gebauten Mikro-Wohnungen in Zürich waren innert weniger Wochen vermietet», verrät Manuel Gamper, Geschäftsführer der City Pop AG. Deren Mutterfirma Artisa baut Schweizer Immobilien zu 1000 Mikrowohnungen von je 25 bis 35 Quadratmeter um. Sie sind als Mietwohnungen auf Zeit konzipiert. Ins Badezimmer gelangt man durch eine schallisolierte Schiebetür, das Bett lässt sich mit einem hydraulischen Hebel aus der Wand klappen und legt sich über das Sofa. Reicht der Stauraum in der Wohnung nicht, können die Bewohner eine Lagerbox dazumieten.

Wohnungssuchende aller Couleur
Wer wohnt in solchen Mikrowohnungen? «Viele Businessleute und Expats, aber auch Menschen, die sich von ihren Partnern getrennt haben und rasch eine neue Wohnlösung brauchen», sagt Gamper: «Andere kommen als Studenten oder wollen nach der Pensionierung im Stadtzentrum leben.» Artisa plant in fünf weiteren Ländern 15000 Mikroappartements. Ob wohl auch das fahrbare Konstrukt «aVOID» dereinst die Marktfähigkeit erlangt?

«Auf kleiner Fläche leben immer mehr Menschen. Uns bleibt keine Wahl: Wir müssen verdichtet bauen.»

Dr. Thai-Ker Liu, langjähriger Chefstadtplaner von Singapur

aVOID

Mit wenig auszukommen, ist der Lebensstil des Architekten Leonardo Di Chiara. Ein Vierteljahr hat er an seinem ersten Haus, genannt «aVOID», gebaut.

Fläche: 9 Quadratmeter
Standort: Flexibel, weil mit Rädern versehen
Baujahr: 2017

388 Fulton

Zum «ersten marktfähigen» Microliving-Projekt von San Francisco gehören laut dem Architekten David Baker über 69 Wohneinheiten, darunter 35 Studios. Parkplätze für die Bewohner gibt es nicht, dafür 86 Fahrradständer.

Fläche: 30 Quadratmeter (Studio)
Standort: San Francisco
Baujahr: 2016

Gradient Space

Metre Architects haben in dieser Junggesellenwohnung die wichtigsten Elemente miteinander verschmolzen: Bett, Sofa, Arbeits- und Esstisch. Die kompakte Wohnskulptur schafft viel Stauraum.

Fläche: 43 Quadratmeter
Standort: Singapur
Baujahr: 2018

Mini-one

Mehr braucht es nicht, aber auch nicht weniger: Das Minihaus von Architekt Rainer Borcherding ist für ein bis zwei Personen konzipiert. WC, Lavabo, Dusche, Küche, Schrank, Sofa(-Bett) – alles kommt nur einmal vor. Aber zwei Schiebetüren mit EKU Frontino schliessen sich frontbündig elegant zu einer Wand und eröffnen den Raum.

Fläche: Ab 28 Quadratmeter
Standort: Flexibel
Baujahr: 2019

Thema
Microliving, Slide Magazin
Sortiment
Am Bau, Im Bau, Am Möbel
Segment
Residential