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13.10.2020

So wohnt die Welt

Der Wohnraum verknappt sich weltweit. Zugleich verlagert sich unser Leben immer stärker in Räume. Darum wird es zur Frage der Persönlichkeit, wie man die eigenen vier Wände gestaltet. Wir haben Menschen rund um den Globus in ihrem Zuhause besucht.

Einst hausten unsere Vorfahren gemütlich in sicheren, schummrigen Höhlen – ein Irrglaube, wie moderne Historiker behaupten. Die Steinzeitfamilie zog durch die freie Natur und bastelte sich Zelte aus Leder und Hütten aus Laub. Höhlen mussten für andere Zwecke herhalten. Die wahren «Höhlenmenschen» sind wir, die Protagonisten des 21. Jahrhunderts. Nie zuvor sprossen so viele Gebäude aus dem Boden. Und nie zuvor verbrachten Lebewesen mehr Zeit in Räumen. Das stellt hohe An forderungen an unsere «Höhle»: Sie wird vom Schutzraum zum multifunktionalen Handlungsraum. Wir wollen darin entspannen, kommunizieren, arbeiten – und manchmal einfach unsere Ruhe haben. Während unsere Urväter erst mal Türscharniere erfinden mussten, um sich zurückzuziehen, stehen uns Schiebetechniken zur Verfügung. Sie ermöglichen eine vielfältige Nutzung von Wohnund Arbeitsflächen. Doch ein globaler Streifzug zeigt, dass das Potenzial vielerorts nicht ausgeschöpft wird.

Selfmade-Home in Australien

Unsere Reise beginnt mit einem Knall, weit unten auf der Erdkugel. «Es war in der Nacht zum 1. April 2011, als in unserer Werkstatt eine Gasflasche explodierte», erzählt der Australier Bill Dorman (60). Sohn Jasper (21) hatte am Abend geschweisst, und den Gashahn nicht zugedreht. Grosseinsatz für die Feuerwehr, Evakuierung der Nachbarschaft. Das riesige Stahlblechgebäude brannte bis auf die Grundmauern ab. Totalverlust. «Zu Beginn war es schlimm. Doch heute sind wir froh darüber.»

Bill und seine Frau Jo (51) Dorman sitzen in ihrem neuen Haus in der Kleinstadt Goulburn südlich von Sydney. Es ist ein 82 Quadratmeter grosser Raum, mit integrierter Küche und Sitzzone, hohe Dielen, der Grossteil in Holz gebaut – von Dorman selbst. Er ist ehemaliger Metallarbeitslehrer und Künstler, der seine Eisenplastiken auf der ganzen Welt ausstellt. «Der Vorfall war das Signal für uns, unseren Traum zu verwirklichen.» Jahrzehntelang hatte die Familie in engsten Verhältnissen in einem kleinen Cottage aus dem 19. Jahrhundert gelebt, direkt an der Strasse. «Ich fühlte mich isoliert in der Küche», erinnert sich Jo.

Eigenwilliger Energiepionier
Diese Probleme hat die Kinderpflegerin nicht mehr. Der Raum im neuen Haus ist ein Marktplatz sozialen Austauschs. Ob Familie oder Freunde: Hier spielt sich das Leben ab, hier wird getrunken, gekocht, gegessen, gelacht, gestritten, versöhnt. «Wir nutzen das alte Cottage nur noch zum Schlafen», sagt Bill.

Fünf Jahre brauchte Bill Dorman, um das neue Haus zu bauen. Alles, was möglich war, machte er selbst. Jede Schublade, jedes Laschen-Türschloss, und vor allem jede Türe – «ich heisse schliesslich Dorman». Wo immer es ging, nutzte er RecyclingBaustoff. Energieeffizienz sei bei der Planung ein entscheidender Aspekt gewesen – ungewöhnlich in einem Land, in dem die meisten Häuser kaum isoliert sind. Die Idee des Schiebens hält der Künstler für interessant. Schiebetüren müssten allerdings absolut dicht schliessen – nur schon wegen der vielen Fliegen!

Goulburn ist im Sommer über 40 Grad heiss und im Winter sehr kalt. Ein polierter Betonboden speichert tagsüber die Wärme der Sonnenstrahlen. Wenn das nicht reicht, helfen am Abend und in der Nacht ein paar Sonnenkollektoren und eine Tesla-Batterie mit, die Temperatur zu heben. «Wir geben selbst im tiefsten Winter kaum Geld für Strom aus», meint Dorman. Im Gegensatz zu vielen Australiern sehen sich die Dormans «nicht als Barbeque-Typen». Obwohl sie im Garten einen Feuerplatz eingerichtet haben, fühlen sie sich am wohlsten in ihrem grossen Raum. Oder in der neuen Werkstatt.

Bill Dorman betont, dass sein «Shed» ein Arbeitsplatz sei. Nicht, wie für viele Australier, ein Ort, wo sie sich «vor der Frau zurückziehen und betrinken können». Der Künstler bedauert nur, dass ihm die alte Werkstatt nicht früher um die Ohren geflogen ist.

«Das alte Cottage nutzen wir nur noch zum Schlafen.»

Bill Dorman, Goulburn, Australien

Altbau in Hamburg

Wohnglück lässt sich auch in der dichten Hafenstadt Hamburg finden. «Burgerladen, Kinderarzt, Supermarkt – alles liegt direkt um die Ecke!», schwärmt Katlyn Pedroza von ihrer Wohnung. Da stört es sie nicht, dass die S-Bahn immer wieder laut in den nahe gelegenen Bahnhof rauscht. Zusammen mit ihrem Mann Marcus und dem einjährigen Carson zog sie vor acht Jahren aus den USA nach Hamburg. Die Wohnungssuche war nicht einfach – und hat sich seither verschärft. In angesagten Hamburger Stadtteilen ist eine Besichtigung mit 40 bis 50 Interessenten keine Seltenheit.

Umso glücklicher waren die beiden Texaner, als sie den Zuschlag für die Wohnung bekamen. Ihnen gefiel die Vorstellung, zentral im Bezirk Bergedorf zu wohnen. Neben Carson (9) gehören heute noch Reilly (7) und Emery (4) zur Familie. Die Freundschaften zu anderen Familien lassen sich hier einfach pflegen: Im nahen Schlosspark, im Elternzentrum um die Ecke oder unterwegs zum Bäcker läuft man sich häufig über den Weg.

Ein weiterer Pluspunkt: der Charme der Jahrhundertwende. «Aus den USA kannten wir den Typ Altbauwohnung gar nicht, aber die hohen Decken und alten Türen haben uns sehr gefallen», erzählt Marcus. Auch das geräumige Wohnzimmer passt perfekt. Hier spielt sich das Leben ab: Auf den Sofas lässt es sich entspannen und toben, für Bastelprojekte und Spiele der Kinder ist viel Platz. Am Esstisch sitzen häufig noch Gäste.

Akuter Wohnungsmangel
Die Familienerweiterung hat die Wohnung tadellos überstanden. Reilly und Emery teilen sich ein grosses Zimmer, Carson hat seins daneben. «Wir haben die Zimmer oft getauscht», sagt Marcus. «Am Anfang war das kleine Zimmer das Babyzimmer, jetzt ist es unser Büro. Im halben Zimmer war mal Carsons Spielzimmer, jetzt haben wir unser Schlafzimmer dorthin verlegt.» Das Ehebett passt perfekt hinein. Nur fehlt zum Flur hin die Wand. Schon manchmal hätten sich Katlyn und Marcus hier eine Schiebetür gewünscht, um für sich allein sein zu können. Und auch im Wohnzimmer wäre eine flexible Teilung praktisch. Dann hätten Freunde und Grosseltern bei ihren Besuchen ein abgeschlossenes Gästezimmer. Wer weiss, vielleicht kann die Familie den Wunsch beim Vermieter einbringen, wenn die nächste Renovation ansteht?

Ein Problem in Hamburg: Einen Umzug können sich viele der 1,8 Millionen Einwohner nicht leisten, denn bei einer Neuvermietung ziehen die Vermieter gern die Preise an. Zwischen 2007 und 2017 stieg die Durchschnittsmiete um fast 30 Prozent. Zwar baut der Hamburger Senat mehr Wohnungen als vor zehn Jahren – bis zu 8500 im Jahr –, aber der Wohnungsmangel bleibt akut. Eigene vier Wände sind für die meisten undenkbar: Nach Berlin hat Hamburg die niedrigste Eigentümerquote. 80 Prozent der Wohnungen werden vermietet.

«Die hohen Decken und die alten Türen des Altbaus haben unser Herz erobert!»

Katlyn Pedroza, Hamburg

Ein Dach in Singapur, vier Generationen

Heiss begehrt ist das Luxusgut Wohnraum auch auf der Tropeninsel Singapur, Asiens Finanzplatz Nummer eins. Ein Wirtschaftsmagnet, der immer mehr Leute anzieht. So betrachtet überrascht es wenig, dass sich Liwani Izzati (19) manchmal mehr Privatsphäre wünscht. Sie studiert Betriebswirtschaft am Polytechnikum, verdient sich aber ihr Geld als Sängerin, tritt abends oft auf – und ist eine lokale Berühmtheit

Aber Ruhe, nein! Das findet sie zu Hause nie, schon gar nicht an einem Wochenende. «Ein Dutzend Flipflops – oder mehr – und Sandalen vor der Haustür sind ein untrügliches Zeichen für die Zahl der Leute, die wieder mal zu Besuch sind», scherzt Liwani. Cousins, die sie gar nicht alle kennt, Verwandte aus Malaysia, Nachbarn aus dem Wohnblock 15, Berufskollegen der Mutter, Pflegepersonal für ihre schwächelnde Grossmutter. «Meine Mutter Nuraini kocht einfach unwiderstehlich gut», fügt sie verschmitzt, aber auch stolz an.

Singapur stellt man sich als supermoderne Metropole vor. Das Bild stimmt eigentlich. Doch abseits der Prachtstrassen und des Business Distrikts stösst man auf Wohngebiete, die nicht so recht zur glitzernden Skyline passen wollen: Siedlungen wie Bedok Reservoir, wo Liwani aufgewachsen ist. Funktionell, etwas steril und meist älteren Datums, aber familienfreundlich. Es sind typische HDB-Flats: Wohnungen, die im Baurecht für 99 Jahre abgegeben werden. Das Kürzel HDB steht für «Housing Development Board», den wichtigsten staatlichen Bauherrn auf der Insel, der eine Art sozialen Wohnungsbau betreibt.

Diese HDB-Wohnungen verkörpern verdichtetes Bauen par excellence. Anschlüsse an öffentliche Verkehrsmittel, Läden und Shopping Centers sind garantiert. Vor allem: Im sonst ziemlich teuren Singapur sind sie dank Subventionen für die Masse erschwinglich.

Grosse Wohnungen weichen kleinen
Klar, dass Siti Jaria, Liwanis 79-jährige Grossmutter, ebenfalls hier wohnt. Ende der Siebzigerjahre erwarb sie die Wohnung mit ihrem inzwischen verstorbenen Gatten. Falisaya, die Grossenkelin, ist eineinhalb Jahre alt. Vier Generationen unter einem Dach ist selbst für Singapur, wo – typisch asiatisch – Familienbande gepflegt werden, eher ungewöhnlich. Liwani rollt die Augen: Nein, ruhig war es in diesem Appartement noch nie.

Ist das nicht normal für die hier lebenden Malaien, die nebst den Chinesen eine Minderheit bilden? «Ja und Nein», meint Liwani. Die Wohnungen seien früher relativ grosszügig ausgelegt worden, so wie hier. Diese hier, eine Seltenheit, verfügt gar über zwei Stockwerke. Das erleichtere das Zusammenleben. «Zusätzlich helfen wir uns mit mobilen Trennwänden aus.»

Modernere Appartements sind deutlich kleiner und zudem betont offener ausgelegt, um zumindest den Anschein von Grösse zu erwecken. Wer zusätzlich Unterteilungen und Sichtschutz wünscht, muss mit Schiebetüren und Paravents nachhelfen. Der Trend ist klar: Ältere, grössere HDB-Flats wie der von Liwani werden zunehmend abgerissen. Es entstehen Bauten mit bis zu zwanzig Stockwerken und einem kleineren Grundriss. Von der Eingangshalle unten bis zum Flur und der Nasszelle: Platz ist rar auf Asiens Shoppingmeile. Es bleibt die Hoffnung, dass er sich elegant nutzen lässt.

«Wir helfen uns oft mit flexiblen Schiebewänden aus.»

Liwani Izzati, Singapur

Landhaus in den USA

Ganz andere Probleme hat man im weitläufigen Nordosten des US-Bundesstaats Wisconsin mit seinen 15000 Seen. Grund und Boden sind hier reichlich vorhanden. Man teilt ihn sich aber unter anderem mit Bären und Dachsen. Wer das idyllische Landleben liebt, kann hier seinen Traum vom Eigenheim mit viel Umschwung bis heute verwirklichen – wie die Ärztefamilie Michael und Jodi Williams mit ihren Kindern Hannah, Haley, Ashley und Jacob.

Sie wohnt in einem Holzrahmenbau mit überdachter Veranda, wie er für die USA stilprägend ist. Der Haustyp geht letztlich auf den europäischen Fachwerkbau zurück. Fassaden wie Dachschindeln bestehen aus Holz. «Wir haben unseren Hauptwohnraum um eine offene Küche erweitert», erzählt Jodi. Fliessende, grosszügig gestaltete Übergänge sind in den USA populär, genauso wie eingebaute Wandschränke und begehbare Garderoben. Diese lassen Räume grösser erscheinen.

«Kochen, Spielen, Studieren findet bei uns in einem einzigen lichtdurchfluteten Raum statt», freut sich Jodi. Er bildet das Herz ihres Heims. Obgleich die Williams über reichlich Platz verfügen, haben sie die Veranda und Wandschränke mit Schiebetüren ausgestattet. «Das ist praktisch, wenn viele Leute durch den Flur gehen.» Und das ist bei den Williams oft der Fall. Sie empfangen gerne Gäste zu Hause – ausser sie üben ihr Hobby aus: Reisen.

Baustil spiegelt flexiblen Lebensstil
Kaum ein Gebäude in den USA kommt ganz ohne Schiebelösung aus. Vielleicht reflektiert dies ein Stück weit die Mobilität der Amerikaner. Genauso wie der Hausbau, der meist in wenigen Monaten erfolgt, oft in der Hälfte der Zeit wie beispielsweise in Europa. Im Schnitt zieht eine US-Familie alle fünf Jahre um – Job und Studium verlangen es.

Damit endet unsere Exkursion. Sie ist der Beginn einer Gedankenreise – zu einem Zuhause mit verschiebbaren Grenzen.

«Wir sind froh, eine Schiebetür zu haben, wenn viele Leute durch den Flur gehen. Und das ist bei uns oft der Fall.»

Jodi Williams, Wisconsin, USA
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