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«Seniorensiedlungen lassen sich nicht 1:1 exportieren»

Sie kennen die architektonischen Voraussetzungen, die in einer Seniorensiedlung soziale Kontakte entstehen lassen. Die Rede ist von Pearl Chee aus Singapur und François Höpflinger aus der Schweiz. Im Doppelinterview sprechen Sie über die Bedürfnisse von älteren Menschen und über kulturelle Unterschiede.

Interviewpartner

Pearl Chee ist Direktorin von Woha-Architekten. Sie war leitende Architektin der ersten Senioren-Wohnanlage Singapurs, der Kampung Admiralty. Es handelt sich um ein vertikales Dorf, in dem Senioren alles, was sie zum Leben brauchen, in der Nähe finden.

François Höpflinger ist Titularprofessor für Soziologie und Mitglied der Leitungsgruppe des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich. Er gilt als renommiertester Schweizer Altersforscher.

Frau Chee, eines der Ziele des Seniorenwohnens in Kampung Admiralty ist die soziale Interaktion. Welche Massnahmen haben Sie hierfür ergriffen?
Pearl Chee: «Dazu dienen die Bereiche, wo sich die Bewohnerinnen und Bewohner begegnen und zu Veranstaltungen treffen können. Wir gingen aber noch weiter. Um Nachbarn dazu zu bringen, sich im Korridor zu unterhalten, haben wir ein kulturelles Sakrileg begangen und die Wohnungstüren genau gegenüberliegend gebaut. Dies sieht man in Singapur nie, da die Menschen hier hohen Wert auf Privatsphäre legen und nicht möchten, dass man in ihren Haushalt sehen kann. Doch eine Aufweichung der Privatsphäre kann auch Leben retten. Wer weiss, dass sich der Nachbar körperlich nicht wohl fühlt, wird genauer hinsehen und fordert im Notfall medizinische Hilfe an.»

 

Und, brachte die Anordnung der Türen den gewünschten Effekt?
Pearl Chee: «Ja, die Bewohner haben sie akzeptiert, sehen ihren Sinn und reden miteinander.»

Herr Höpflinger, gibt es universelle architektonische Massnahmen, welche soziale Kontakte fördern?
François Höpflinger: «Idealerweise gibt es neben Gemeinschaftsräumen und ruhigen Rückzugsmöglichkeiten. Gartenanlagen, die auch für Menschen aus der Nachbarschaft attraktiv sind. Sie beleben die Siedlung und führen zu zusätzlichen Begegnungen.»

Stellt Kampung Admiralty die Zukunft des globalen Seniorenwohnens dar?
Pearl Chee: «In einer idealen Zukunft würde ich hoffen, dass die meisten Senioren Zugang zu einer Gemeinschaft wie Kampung Admiralty haben, aber es braucht eine Menge politischen Willen und Kooperation zwischen den Beteiligten, um ein Projekt wie dieses zu verwirklichen.»
François Höpflinger: «Kampung Admiralty ist ein tolles Wohnprojekt. Für den asiatischen Raum ist es ein Vorzeigemodell. Ob es sich eins zu eins global umsetzen lässt, wage ich zu bezweifeln. Mit seiner vertikalen Dimension fände es in der Schweiz wohl nicht eine Mehrheit in der Bevölkerung.»

Würde sich eine Schweizer Seniorin in Kampung wohlfühlen?
Pearl Chee: «Ich denke schon, denn obwohl die Anlage darauf ausgelegt ist, Gemeinschaft und Interaktion zu fördern, können die Bewohner den Grad der Interaktion und Privatsphäre wählen, den sie wünschen.»
François Höpflinger: «Schweizer und Schweizerinnen sind nicht gewohnt, in Hochhäusern zu leben und haben höhere Ansprüche an die Grösse von Wohnungen. Sie würden sich in Kampung ein bisschen eingeengt fühlen. Seniorensiedlungen lassen sich nicht 1:1 exportieren.»

Und umgekehrt ein Kampung-Bewohner in einer Schweizer Seniorensiedlung?
Pearl Chee: «Ich bin mir nicht sicher, ob sich ein Senior aus Singapur in der Schweiz zu Hause fühlen würde - wir sind es gewohnt, sehr dicht in einer städtischen Umgebung zu leben, wenn es also Wohnmöglichkeiten in einem ähnlichen Kontext gibt, dann möglicherweise ja.»
François Höpflinger: «Ich kann mir vorstellen, dass es einem Singapurer in einer Schweizer Seniorensiedlung langweilig wäre. Er müsste vieles selbst organisieren. Wir Schweizer sind Individualisten, unternehmen gerne etwas auf eigene Faust und gehen auf Reisen. Bei uns gibt es auch Aktivitäten, zu denen beispielsweise das Management einer Seniorensiedlung einlädt. Doch die meisten Senioren pochen, wenn sie noch fit sind, auf individuelle Unternehmungen.»

 

Frau Chee, lassen sich die Wohnungen an die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner anpassen?
Pearl Chee: «Ja. Es gibt Wohnungen in zwei Grössen – mit 45 und 60 Quadratmetern Fläche. Bei den grösseren lassen sich die Schlafzimmerwände verschieben. So entstehen neue Grundrisse, zum Beispiel ein grösseres Wohnzimmer.»

In Singapur ist das Alterswohnen staatlich organisiert. Macht dies die Planung eines Projektes wie Kampung Admiralty einfacher?
Pearl Chee: «Ja, wenn die Regierung ein Projekt wie Kampung unterstützt, ist es einfacher, einen Prototyp wie diesen zu bauen.»
François Höpflinger: «Bei uns ist der genossenschaftliche Bottom-Up-Ansatz bei der Planung des Seniorenwohnens populär. Dieser ist in unserer demokratischen Tradition verankert, lässt aber auch immer wieder Projekte scheitern. Da schaue ich schon ein bisschen wehmütig nach Singapur. Andererseits entspräche der dortige Top-Down-Ansatz nicht der Schweizer DNA.»

Wie wohnen Sie? Und ist es für Sie vorstellbar, einmal in einen Seniorensiedlung wie zum Beispiel Kampung zu ziehen?
François Höpflinger: «Ich lebe in einem Mehrfamilienhaus mit vier Wohnungen in Horgen. Drei Wohnungen sind mit Pensionierten belegt. Zuoberst haben sich drei junge Menschen als eine Art von Wohngemeinschaft eingemietet. Ich bleibe gerne wohnen, wo ich bin, und möchte in meinem Alter am liebsten nicht mehr umziehen. Falls ein Umzug doch notwendig wird, gibt es in der Gemeinde ein vielfältiges Angebot an Alterswohnungen.»
Pearl Chee: «Ich bin selbst in einer dorfähnlichen Gemeinschaft, einem Kampung, aufgewachsen. Deshalb kann ich mir sehr gut vorstellen, eines Tages wieder in einem solchen zu leben. Es muss nicht unbedingt in Kampung Admiralty sein, denn die hat sich inzwischen als erfolgreicher Prototyp erwiesen, und die Regierung Singapurs hat übrigens bereits angekündigt, dass weitere Siedlungen wie diese in unserem gesamten Inselstaat gebaut werden sollen.

 

Autor: Philippe Welti

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